By the Waters of Babylon

Als ich kürzlich für mein Crowd-Kanon-Projekt „Nach dieser Erde“ recherchierte, stieß ich schnell auf die Originalkomposition. Sie stammt von Philip Hayes (1738-1797), und der ursprüngliche Text basiert auf dem biblischen Psalm 137. Dieser Psalm thematisiert die Klage der Gefangenen zu Babel: „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten.

Die Hayes-Vorlage wurde von Lee Hays (man beachte die Namensähnlichkeit) unter dem Titel „Psalm 137“ für die Weavers bearbeitet und 1971 durch den US Singer/Songwriter Don McLean („American Pie“) unter dem Songtitel „Babylon“ publiziert. Es gibt von dieser Version eine sehr schöne Live-Aufnahme von 1975 in Irland.

Hier der im Lied verwendete englische Text:

By the waters
the waters
of Babylon

We lay down and wept
and wept
for thee, Zion

We remember thee
remember thee
remember thee, Zion

Die Version von Don McLean rührte mich sofort beim ersten Hören zu Tränen. Eine heftige Welle tiefer Trauer erfasste mich; intensiver, sehr alter Schmerz über einen unwiederbringlichen Verlust. Das ging weit über den biblischen Ursprung und Kontext hinaus. Woher kommt das? Ich bin dabei, es zu erforschen…

Nachdem ich „By the Waters of Babylon“ ungefähr zwei Wochen Tag und Nacht im Kopf hatte, nahm eine eigene Version Gestalt an. Herausgekommen ist ein Video, in dem ich das Lied mit dem gleichnamigen Gemälde von Evelyn De Morgan (1883) visualisiert habe.

Minimal Music

Minimal-Music ist möglicherweise etwas gewöhnungsbedürftig. Ihre charakteristischen kurzen, repetitiven und ineinander verwobenen melodischen und rhythmischen Muster wirken auf die einen (mich z. B.) sehr entspannend, während sie für andere offenbar schwer auszuhalten sind. Meine Frau und meine Tochter sagen, sie bekommen davon Herzrasen. 😉

Vielleicht hängt es davon ab, wie die eigene musikalische Wahrnehmung die auf verschiedenen Ebenen eintreffenden Klänge miteinander verwebt. Mich fasziniert an dieser Art Musik besonders, dass Teile davon offenbar erst im Gehirn entstehen. Manchmal kann man Töne und Melodien wahrnehmen, die in der Komposition definitiv nicht vorkommen.

Ich gelange beim Hören jedenfalls mit Leichtigkeit in einen meditativen Zustand, ähnlich wie beim Mantrasingen.

Das Tonal fluten

Carlos Castaneda schildert in seinen Büchern eine Technik zur Bewusstseinsveränderung, die sein Lehrmeister „das Tonal fluten“ nannte. Das Tonal ist hier nicht im musikalischen Sinne zu verstehen, sondern bezeichnet in etwa unseren normalen Bewusstseinszustand, unser Alltagsbewusstsein, mit einer bestimmten Art Wahrnehmung, die unsere Alltagswelt konstituiert. Eine komplett andere Art Wahrnehmung – die Wahrnehmung der Anderswelt und Interaktionen darin – wird im Gegensatz dazu als das Nagual bezeichnet. Schaman*innen bilden ihre Wahrnehmungsfähigkeiten so aus, dass sie zwischen Tonal und Nagual wechseln können.

Die Technik des Tonal-Flutens besteht nun darin (meine Interpretation), dass unsere normale Alltagswahrnehmung durch sehr viele oder sehr ungewohnte Reize so „geflutet“ wird, dass es unserem Alltagsbewusstsein unmöglich wird, alles auf gewohnte Weise zu verarbeiten. Unserem Geist bleibt dann nichts weiter übrig, als die Verarbeitung nach bekannten Mustern schlicht aufzugeben, und dann kann Wahrnehmung unmittelbar erfolgen, ohne die üblichen Verarbeitungsfilter.

Bestimmte Arten von komplexer Minimal-Music, die ich gern als Mind-Music bezeichne, können – bei mir zumindest – diesen Effekt auslösen. Mein Geist schafft es irgendwann nicht mehr, allen Melodie- und Rhythmus-Patterns gleichzeitig zu folgen. Er versucht zunächst, die Bandbreite meiner musikalischen Wahrnehmung einzuschränken. Es entsteht eine Art akustischer Tunnelblick, bei dem ich dann einzelnen oder jedenfalls wenigen Mustern folge, zwischen denen mein Aufmerksamkeitsfokus auch wechseln kann.

Aber die richtig schönen Momente entstehen, wenn mein gefluteter Geist sich traut, loszulassen. Erleichtert wird das durch die sich immer und immer wiederholenden Klangmuster, die mich in eine Art überwache Trance versetzen, in einen Zustand, der mir durch Meditation und Qigong vertraut ist. In diesen Momenten erlebe ich die Musik als ganzheitliche Einheit. Es gibt keine einzelnen Instrumente, Töne oder Geräusche mehr – alles passiert gleichzeitig, wird dadurch zeitlos und unmittelbar. Kein Denken mehr, nur noch reine Wahrnehmung.

Empfehlung

Mein Minimal-Music-Lieblingskomponist ist der US-Amerikaner Steve Reich. Er gilt als einer der renommiertesten lebenden Komponisten und feierte am 3. Oktober 2021 seinen 85. Geburtstag.

Was kann ich besondes empfehlen? Für einen Anfang vielleicht diese drei Stücke hier (die Links führen zu YouTube):

„Sundance“

Zurück in die Niederungen. 😉

Vor einigen Jahren habe ich ein Instrumentalstück komponiert und bei SoundCloud unter dem Titel „Dance of Shiva“ publiziert. Mit diesem Namen war ich aber nie ganz zufrieden, er schien mir doch irgendwie zu kühn.

Auch suchte ich nach einer passenden Visualisierung für ein Video, die jahrelang auf sich warten ließ.

Vor einigen Wochen saß ich im Garten in der Sonne und beobachtete einen blühenden Basilikumstrauch, in dem sich zahlreiche Bienen tummelten. Da hatte ich einen neuen Titel und ein Videomotiv. 🙂

„Sundance“ ist auch ein Stück Minimal-Music, in dem ich zudem ein bisschen mit Polyrhythmen experimentiert habe.

Wenn Du es anhören magst, entspann Dich möglichst dabei und lass Deine Wahrnehmung immer tiefere Schichten erkunden, während sich das Stück entwickelt.

Das Video habe ich mit dem Handy gefilmt, die Videoqualität ist entsprechend.

Nach dieser Erde

Ein virtuelles Crowd-Kanon-Projekt

Kürzlich kam mir ein alter Kanon wieder in den Sinn. Ich kenne ihn als „Nach dieser Erde“. Der deutsche Text stammt aus der Friedensbewegung der 1980er Jahre. Damals demonstrierten viele Menschen in Deutschland und Europa gegen die atomare Aufrüstung in Ost und West.

Rückschau: Olof-Palme-Friedensmarsch

Im September 1987 nahm ich mit vielen anderen Menschen am „Olof-Palme-Friedensmarsch“ teil, für einen atomwaffenfreien Korridor in Mitteleuropa. Dieser Marsch war in vielerlei Hinsicht ein bemerkenswertes Novum. Die Strecke verlief in der DDR, von Stralsund nach Dresden. Erstmals wurden oppositionelle DDR-Gruppen auf einer Demo von der Stasi toleriert, wenn auch natürlich überwacht.

Ich lief damals das Teilstück zwischen den ehemaligen Konzentrationslagern Ravensbrück und Sachsenhausen mit. Es waren milde Spätsommertage, und unter uns Oppositionellen, von der Stasi als „feindlich-negative Elemente“ bezeichnet, hatte sich eine einzigartige Aufbruchstimmung verbreitet. Wir fühlten, hier passiert gerade etwas sehr Besonderes.

Während wir durch die brandenburgischen Alleen pilgerten, sangen wir sehr viel. Friedenslieder, kirchliche Lieder und wunderschöne Kanons. Unter anderem auch „Nach dieser Erde“. Text und Melodie berührten mich tief.

Der Kanon

Nach dieser Erde, Text und Noten

Melodie: „By the Waters of Babylon“ by Philip Hayes (1738-1797), Text: Gerd Kern

Aktuell

Heute, fast 35 Jahre später, ist das Problem atomarer Waffen immer noch nicht aus der Welt geschafft. Absehbar hinzugekommen ist zudem ein neues, dringend zu lösendes Problem: der Klimawandel. Der Text dieses Liedes ist also höchst aktuell.

Das Projekt

Ich möchte diesen schönen, berührenden und mahnenden Kanon gern wieder neu beleben. Da es in Corona-Zeiten schwierig ist, real zusammenzukommen, machen wir das virtuell. Ich werde die Stimmen möglichst vieler Menschen sammeln und daraus ein Video produzieren, das im Internet veröffentlicht wird.

Für dieses Crowd-Kanon-Projekt habe ich eine Website unter https://nachdiesererde.mantrasingen-online.de eingerichtet, auf der genau erklärt wird, wie alles ablaufen soll.

In der ersten Phase dieses Projekts werden wir eine deutschsprachige Version produzieren. Weitere Sprachen sind in Vorbereitung.

Bist Du dabei? Sei willkommen!