Minimal-Music ist möglicherweise etwas gewöhnungsbedürftig. Ihre charakteristischen kurzen, repetitiven und ineinander verwobenen melodischen und rhythmischen Muster wirken auf die einen (mich z. B.) sehr entspannend, während sie für andere offenbar schwer auszuhalten sind. Meine Frau und meine Tochter sagen, sie bekommen davon Herzrasen. 😉
Vielleicht hängt es davon ab, wie die eigene musikalische Wahrnehmung die auf verschiedenen Ebenen eintreffenden Klänge miteinander verwebt. Mich fasziniert an dieser Art Musik besonders, dass Teile davon offenbar erst im Gehirn entstehen. Manchmal kann man Töne und Melodien wahrnehmen, die in der Komposition definitiv nicht vorkommen.
Ich gelange beim Hören jedenfalls mit Leichtigkeit in einen meditativen Zustand, ähnlich wie beim Mantrasingen.
Das Tonal fluten
Carlos Castaneda schildert in seinen Büchern eine Technik zur Bewusstseinsveränderung, die sein Lehrmeister „das Tonal fluten“ nannte. Das Tonal ist hier nicht im musikalischen Sinne zu verstehen, sondern bezeichnet in etwa unseren normalen Bewusstseinszustand, unser Alltagsbewusstsein, mit einer bestimmten Art Wahrnehmung, die unsere Alltagswelt konstituiert. Eine komplett andere Art Wahrnehmung – die Wahrnehmung der Anderswelt und Interaktionen darin – wird im Gegensatz dazu als das Nagual bezeichnet. Schaman*innen bilden ihre Wahrnehmungsfähigkeiten so aus, dass sie zwischen Tonal und Nagual wechseln können.
Die Technik des Tonal-Flutens besteht nun darin (meine Interpretation), dass unsere normale Alltagswahrnehmung durch sehr viele oder sehr ungewohnte Reize so „geflutet“ wird, dass es unserem Alltagsbewusstsein unmöglich wird, alles auf gewohnte Weise zu verarbeiten. Unserem Geist bleibt dann nichts weiter übrig, als die Verarbeitung nach bekannten Mustern schlicht aufzugeben, und dann kann Wahrnehmung unmittelbar erfolgen, ohne die üblichen Verarbeitungsfilter.
Bestimmte Arten von komplexer Minimal-Music, die ich gern als Mind-Music bezeichne, können – bei mir zumindest – diesen Effekt auslösen. Mein Geist schafft es irgendwann nicht mehr, allen Melodie- und Rhythmus-Patterns gleichzeitig zu folgen. Er versucht zunächst, die Bandbreite meiner musikalischen Wahrnehmung einzuschränken. Es entsteht eine Art akustischer Tunnelblick, bei dem ich dann einzelnen oder jedenfalls wenigen Mustern folge, zwischen denen mein Aufmerksamkeitsfokus auch wechseln kann.
Aber die richtig schönen Momente entstehen, wenn mein gefluteter Geist sich traut, loszulassen. Erleichtert wird das durch die sich immer und immer wiederholenden Klangmuster, die mich in eine Art überwache Trance versetzen, in einen Zustand, der mir durch Meditation und Qigong vertraut ist. In diesen Momenten erlebe ich die Musik als ganzheitliche Einheit. Es gibt keine einzelnen Instrumente, Töne oder Geräusche mehr – alles passiert gleichzeitig, wird dadurch zeitlos und unmittelbar. Kein Denken mehr, nur noch reine Wahrnehmung.
Empfehlung
Mein Minimal-Music-Lieblingskomponist ist der US-Amerikaner Steve Reich. Er gilt als einer der renommiertesten lebenden Komponisten und feierte am 3. Oktober 2021 seinen 85. Geburtstag.
Was kann ich besondes empfehlen? Für einen Anfang vielleicht diese drei Stücke hier (die Links führen zu YouTube):
„Sundance“
Zurück in die Niederungen. 😉
Vor einigen Jahren habe ich ein Instrumentalstück komponiert und bei SoundCloud unter dem Titel „Dance of Shiva“ publiziert. Mit diesem Namen war ich aber nie ganz zufrieden, er schien mir doch irgendwie zu kühn.
Auch suchte ich nach einer passenden Visualisierung für ein Video, die jahrelang auf sich warten ließ.
Vor einigen Wochen saß ich im Garten in der Sonne und beobachtete einen blühenden Basilikumstrauch, in dem sich zahlreiche Bienen tummelten. Da hatte ich einen neuen Titel und ein Videomotiv. 🙂
„Sundance“ ist auch ein Stück Minimal-Music, in dem ich zudem ein bisschen mit Polyrhythmen experimentiert habe.
Wenn Du es anhören magst, entspann Dich möglichst dabei und lass Deine Wahrnehmung immer tiefere Schichten erkunden, während sich das Stück entwickelt.
Das Video habe ich mit dem Handy gefilmt, die Videoqualität ist entsprechend.