Belehrung
Seit einem Jahr nehme ich an einem insgesamt auf drei Jahre angelegten Prozess „Spirituelle Transformation“ bei den chinesischen Qigong-Meisterinnen Tianying und Tianping am Tian Ai Qigong Institut in Berlin teil.
Beim vorletzten Modul Anfang Juni dieses Jahres trug sich folgende Begebenheit zu:
Wir machen Achtsamkeits-, Meditations- und Reinigungsübungen zu verschiedenen Emotionen. An einem Nachmittag beschäftigen wir uns mit der Emotion Ärger. Ich sitze auf meinem Stuhl, habe die Augen geschlossen und richte meine Aufmerksamkeit nach innen.
Wann habe ich mich eigentlich das letzte Mal geärgert? Und worüber? Muss schon eine ganze Weile her sein. Ärger… hm. Ich glaube fast… also Ärger… hm. Ziemlich sinnlose Emotion. Reine Energieverschwendung. So gar nicht hilfreich in der jeweiligen Situation. Wenn ich genau draufschaue auf das, was sich ärgert, finde ich wieder mal was: das Ego, in einer seiner zahlreichen und unglaublich kreativen Verkleidungen. Vermutlich gekränkt und beleidigt durch irgend etwas, das sich bei näherer Betrachtung als nichtig und ohne Relevanz, ja ohne Substanz erweist. Ärger… hm. Wie fühlt er sich nochmal an? Kann mich gar nicht richtig erinnern. Also ich glaube, Ärger spielt keine große Rolle mehr in meinem Leben. Oder? Darüber bin ich hinaus. Oder? Alles ruhig und entspannt in mir. Ärger…? Nee. Wunderbar. Fühlt sich angenehm an, über Ärger hinaus zu sein…
Solcherart Gedanken produziert also mein Geist, während ich da sitze und über Ärger nachsinne. Wir beenden die Übung und ich bin dankbar und fühle mich auf eine dezente Weise ziemlich gut.
Als wir uns am nächsten Morgen wieder im Gruppenraum einfinden, nehme ich eine Tasse Wasser mit und stelle sie neben meinem Stuhl ab. Sollen wir nicht, aber der Tag gestern war sehr heiß, ich hatte viel zu wenig getrunken und will heute mehr auf meinen Wasserhaushalt achten.
Kurz vor Beginn rücke ich mit meinem Stuhl ein wenig zur Seite, um die Meisterin besser sehen zu können und stoße dabei natürlich die Tasse um. Sofort breitet sich eine kleine Wasserlache auf dem Fußboden aus. Eine Frau aus der Reihe hinter mir sieht sich zu dem Kommentar veranlasst: „Genau aus diesem Grund sollen wir keine Tassen mit hereinbringen.“ Ohne nachzudenken antworte ich sofort (mit leicht herablassendem Unterton): „Danke für die Belehrung.“ und stehe auf, um ein Tuch zum Aufwischen aus der Küche zu holen.
Und während ich den Raum verlasse, trifft mich die Erkenntnis: Hey, was ist das denn – ich ärgere mich! Und wie!
Nicht über meine Unachtsamkeit mit der Tasse. Sondern über den meinem Empfinden nach hausmeisterinnenhaften Kommentar. Erstklassiger Ärger, rein und stark. Da wurde das richtige Knöpfchen gedrückt.
Jaja, gestern noch glaubte ich mich über Ärger erhaben. Hihi, sagt das Universum und schickt mir direkt eine Situation zur Selbsterfahrung und Wahrnehmungskorrektur.
In diesem Moment, während mir das klar wird, löst sich der Ärger tatsächlich auf und ich fühle mich demütig und dankbar. Und wenn ich meine Replik an die Frau hinter mir nur ein wenig anders betone, passt sie wunderbar:
Danke für die Belehrung.